Im spirituellen Leben geht es darum, zur eigenen „Quelle“ zu finden. Dieses wird oft als „Einheitserfahrung“ erlebt und als Einheit mit Gott beschrieben und viele Schriften weisen den Weg dorthin.
Tantra bezieht sich auf viele Quellen. Ob eine Weltanschauung sich auf Gottheiten, Philosophie oder Wissenschaft beruft spielt eine untergeordnetet Rolle. Alle Weltanschauungen beziehen sich auf alles, sonst würde keine „Welt“ zusammen kommen.
Wir können uns dem tantrischen System über die Gottheiten oder über die Schriften nähern. Die Gottheiten werden auf einer eigenen Seite beschrieben. >>> Gottheiten.
Welches sind die Tantrischen Urschriften?
Viele behaupten, dass ihre Quellen älter sind als die ältesten Schriften. Tatsächlich gab es in Indien (und sonst auf der Welt) eine lange Tradition mündlicher Überlieferung. Auch die Bibel wurde 200 Jahre nach Jesu aufgeschrieben. Die tantrischen Schriften des Mittelalters sind eher kryptische Merksätze, die ohne Unterweisung und Kenntnis der Lehre kaum verständlich sind.
Tantra als Teil des Hinduismus bzw. Buddhismus bezieht sich auf die jeweiligen Urschriften ähnlich wie Juden, Christen, und Moslems sich auf das alte Testament beziehen. Eine Vielzahl von Geschichten und Gottheiten im Tantra werden in den alten Schriften beschrieben.
Die Veden sind eine Sammlung religiöser Texte im Hinduismus. Viele hinduistische Strömungen überliefern eine grundlegende Autorität des Veda. Den Kern bilden von Rishis (Weisen) „gehörte“ Shruti (Gesänge), also Offenbarungen. Heute würde man von „channeling“ sprechen. Veden, Mahabharata (incl. Bhagavad Gita) und Puranas werden einem mythischen Rishi namens Vyasa zugeschrieben.
Auch die Hatha Yoga Schriften sind Teil der Tantras (Shakti Agamas). Die Wichtigsten sind Shiva Samhita, Hatha Yoga Pradipika, Gheranda Samhita und das Goraksha Shataka. Selbst in der Hatha Yoga Pradipika sind sexuelle Vereinigungsrituale beschrieben *.
Das Kularnava-Tantra erklärt, dass in den vier Yugas (Zeitalter) das Shastra (die heilige Lehre) in einer speziellen Form vermittelt werden: Im Satya Yuga als Shruti; im Treta als Smriti; im Dvapara als Puranas und im (jetzigen) Kali-Yuga als Tantra. *)
Shruti ist „jenes, was gehört wurde“, die höchste, direkte Offenbarung des göttlichen Wortes. Smriti ist „jenes, was erinnert wird“. Die Verfasser dieser Texte geben spirituellen Traditionen und Lehren weiter, die als authentisch gelten, wenn ihre Inhalte im Einklang mit jenen der Shruti stehen. Mahabharata, Ramayana und die Puranas gehören z.B. zur Smriti.
Für die tantrischen Schriften wird zum Teil auch Begriff „agama“ verwendet, was Herkunft oder Quelle bedeutet. Grundsätzlich kann man die Texte in Vishnuitische, shivaitische und Shakta-Agamas unterteilen, je nachdem ob Vishnu, Shiva oder die Shakti im Mittelpunkt der Anbetung steht. Die letzte Gruppe ist die wichtigste und bekannteste. Zum Teil wird sie im Sprachgebrauch auch mit Tantra gleichgesetzt.
Inhaltlich geht es in der Regel um drei Dinge: Sadhana (spirituelle Praxis), Siddhi (das Resultat und die Verwirklichung aufgrund der Sadana) und schließlich die Philosophie als solche. Diese lehnt sich an jene der Upanishaden an und glaubt an die Identität der individuellen Seele mit Shiva-Shakti, welche dem Konzept des Brahman der Upanishaden entsprechen.
Die tantrischen Schriften gehen davon aus, dass verschiedene Suchende verschiedene Qualitäten aufweisen und dass ihre jeweilige Sadana sich dementsprechend differenziert entfalten sollte. Es gibt drei Hauptkategorien: pashu, vira und divya. Der erste Typ ist noch stark vom animalischen Triebleben dominiert. Er sollte Versuchungen aus dem Weg gehen und mit strikter Disziplin Rituale der Anbetung und Verehrung durchführen, um Stetigkeit und Stabilität zu erlangen. Der Vira („Held“) steht bereits stark unter dem Einfluss spiritueller Ideale. Er kann die Herausforderung annehmen, inmitten von Objekten der „Versuchung“ zu leben und so zunehmend Gleichmut und Selbstbeherrschung entwickeln. Der Divya-Typ ist fest im göttlichen Bewusstsein verankert und strahlt Liebe und Wahrhaftigkeit aus. Für ihn sind Rituale nicht mehr notwendig, aber er kann sie weiterhin durchführen, um anderen ein Beispiel zu geben.
Sehr bekannte Tantras sind: **)
- Kularnava-Tantra, mit 17 Kapiteln und mehr als 2000 Versen aus dem 10.Jh. Ein Hauptwerk des Shaktismus, der Verehrung der Shakti unter verschidenen Namen wie Durga, Kali oder Parvati.
- Tantraloka, von Abhinavagupta, mit 37 Kapiteln über Ritualistik und Philosophie.
- Das Mahanirvana-Tantra hat mit philosophischen und ethischen Lehren einen großen Einfluss auf das indische Geistesleben ausgeübt.
- Das Vijnana Bhairava Tantra lässt sich in einer sprachlich sehr schönen Version von Shunyata P. Mahat als „Die Sutras aus dem Herzen Gottes“ lesen bzw. als Hörbuch hören. Shiva/Bhairava erklärt seiner Shakti 112 Meditationen.
- Das Mahanirvana-Tantra wurde 1913 von Woodroffe übersetzt, der damit Pionierarbeit leistet.
- Yoni-Tantra, ein unorthodoxes kurzs Tantra aus Bengalen des 11.-17 Jh. Eines de wenigen originalen Tantras, welches die Heiligkeit der weiblichen Genitalien und des Menstruationsblutes feiert.
- Einige buddhistische Tantras Tantras der Yogini-Schule sind gut erhalten, wie z.B. das Candamaharosana Tantra, Cakrasamvara Tantra und Hevajra Tantra. Sie zeigen den Kontakt zwischen Hinduistischen und Buddhistischen Schulen.
- Kulacudamani-Tantra, „das Kronjuwel des Kula“, ein frühes (9.-10 Jh.), wildes Nigama-Tantra.
- Lakshmi-Tantra. Ein Vaishnava-Tantra der Pancaratra-Tradition, ca. 9. – 12. Jh..
- Shiva Samhita. Ein wichtiges Praktisches Werk aus dem 15.-17 Jh., über den Saiva-Yoga.
- Tantraloka (Licht auf Tantra). Das Meisterwerk von Abhinavagupta aus Kashmir, 10 Jh., Ein schwer verständliches Grundlagenwerk, welches nur teilweise in europäische Sprache übersetzt ist.
- … und vieles mehr
Wie weiter? Die Quelle deiner Selbstverwirklichung findest du nur in dir. Tantra aus Büchern zu lernen hilf wenig. Es braucht die spirituelle Gemeinschaft
*) Siehe Wilfried Huchzermeyer, 2003, Die heiligen Schriften Indiens.
**) Siehe Jan Fries, Kali Kaula, 2010.